#97 "Minamata: Kanja-San To Sono Sekai" (1971)

"Minamata: Kanja-San To Sono Sekai"

aka

"Minamata: The Victims and Their World"

Im Süden Japans in der Präfektur Kumamoto gelangte die Stadt Minamata in den 1950er-Jahren zu trauriger Berühmtheit. Die dort ansässige Chemiefabrik der Firma Chisso leitet über Jahre hinweg quecksilberhaltige Abfälle in die Fischereigewässer. Die Anwohner aßen den kontaminierten Fisch, der zu schwersten Quecksilbervergiftungen und Fehlbildungen bei Neugeborenen führte. Die sogenannte "Minamata-Krankheit" kostet mehr als 3000 Menschen das Leben und ging als eine der größten Umweltkatastrophen Japans in die Geschichte ein.

"Minamata: The Victims and their World" entstand 1971. Der Weg nach Minamata war für den Regisseur Noriaki Tsuchimoto kein leichter. Denn durch eine Dokumentation fürs Fernsehen, die er bereits 1965 drehte, musste er viel Kritik der Einheimischen einstecken. Sie warfen ihm vor sie ausgenutzt zu haben und fühlten sich in wie Freaks dargestellt. Der reißerische Nachrichtenbeitrag sollte Noriaki noch lange nachhängen und es brauchte einige Zeit bevor er sich für einen neuen Anlauf entschied. Schließlich erstreckte sich das Projekt über einen Zeitraum von 30 Jahren, in denen drei Filme entstanden.

Anders als in der Fernsehproduktion verweigerte Noriaki aufwendige Montagen und verwendete stattdessen lange, ungeschnittene Aufnahmen mit denen er einen kritischen Blick etablieren wollte. Bevor er eigenständiger Dokumentarfilmer wurde, arbeitete Noriaki bei Iwanami Production neben Regisseuren wie Kazuo Kuroki ("Silence has no Wings" 1966) und Susumu Hani ("Tokyo 1958" 1958). Danach drehte er erste Dokumentationen über das studentische Milieu und widmete sich dann ökologischen Themen, unter anderem auch der Atomenergie in dem Kurzfilm "Nuclear Power Scrapbook" (1982). Fortan galt er progressive Kraft des japanischen Films und inspirierte mit seinem Stil Filmemacher wie Kazuo Hara ("The Emperor’s Naked Army Marches On" 1987) und Kazuhiro Soda ("Mental" 2008).

Der Film ist geprägt von den Aufnahmen des Kameramanns Koshiro Otsu, der selbst eine wichtige Figur in der japanischen Filmgeschichte ist. Seine Arbeiten für Shinsuke Ogawas "The Oppressed Students" (1967) und "Summer in Narita“ (1968) sind bedeutende Zeitdokumente. In Minamata fand er ein wunderschöne Küstenregion vor. Seine Landschaftsaufnahmen zeigen aber nicht das pittoreske Urlaubspanorama, welches an die kontemplative Wirkung mancher Ozu-Filme erinnert, sondern deuten auf ein komplexes Ökosystem hin, welches hinter der malerischen Fassade bröckelt.


In knapp 100 Minuten bringt uns der Film die Lebensgewohnheit der Einheimischen, deren Erkrankungen und letztendlich ihren Kampf um Anerkennung und Schadensersatz, näher. Hierbei entfaltet sich schnell die Schlussfolgerung, dass die traditionelle Lebensweise, der Fischfang als Lebensgrundlage all derer, die in der Region leben, von der Industrialisierung bedroht ist.

Der Höhepunkt des Films ist zweifelsohne die Konfrontation der Opfer und Angehörigen mit dem Vorstand des Chisso Chemiekonzerns. In einer öffentlichen Sitzungen bricht das Chaos aus. Menschen stürmen auf die Bühne, wollen ihre Wut dem Vorsitzen ins Gesicht sagen und fordern eine Entschuldigung. Die pure Verzweiflung über die jahrelange Ignoranz trifft auf die stummen Minen der Vorstandsmitglieder. Anders als der Observational Style seiner geistigen Nachfolger Hara und Soda, benutzt Noriaki für diese Situationen doch eine hohe Schnittfrequenz und verharrt nicht nur in einem Blickwinkel. Zudem verwendet er ab und an musikalische Einspieler.

Noriaki, der im späteren Verlauf seines Lebens ein guter Freund von Claude Lanzmann ("Shoa" 1985) wurde und ihn nach Tokyo einlud, hat mit "Minamata" einen Meilenstein für den japanischen Dokumentarfilm gelegt und Filmemacher auf der ganzen Welt mit seinem Aktionismus beeinflusst.

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